Wie ver­än­dern sich sexu­el­le Wün­sche und Moral­vor­stel­lun­gen wäh­rend der Coro­na-Pan­de­mie? Dient die Kri­se als Kata­ly­sa­tor für sich schon län­ger abzeich­nen­de Ver­än­de­run­gen? Wel­che Funk­tio­nen hat die The­ma­ti­sie­rung von Sexua­li­tät für die Bewäl­ti­gung gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te und Ängste?

Die Ana­ly­se gesell­schaft­li­cher Dis­kur­se über Sexua­li­tät in einer Zeit des „social distancing“ soll in die­sem Pro­jekt zu einem tie­fe­ren Ver­ständ­nis der mensch­li­chen Sexua­li­tät ver­hel­fen. Die Erkennt­nis­se, die wir über die Dyna­mik von Begeh­ren, Ver­zicht und Ver­bot gewin­nen wer­den, besit­zen über das aktu­el­le Pro­jekt hin­aus Bedeu­tung: Sie sind auf ande­re Kri­sen und auf die Ana­ly­se poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen zu ihrer Bewäl­ti­gung über­trag­bar. Sie bie­ten aber auch wich­ti­ge Ein­sich­ten für psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Prozesse.

Projektbeschreibung

Mit unse­rem Ansatz unter­schei­den wir uns von Stu­di­en, die unter­su­chen, wie sich die Coro­na-Kri­se auf sexu­el­le Wün­sche und Prak­ti­ken inner­halb von fes­ten Paar­be­zie­hun­gen aus­wirkt – und deren Ziel es nicht zuletzt ist, Paa­ren in zukünf­ti­gen Kri­sen bes­ser hel­fen zu kön­nen. Uns inter­es­siert eine ande­re Fra­ge, sie liegt auf der Ebe­ne der Dis­kur­se: Inwie­fern dient die Coro­na-Kri­se als Anlass, bis­he­ri­ge Ein­stel­lun­gen zur Sexua­li­tät inner­halb und außer­halb von fes­ten Paar­be­zie­hun­gen zu hin­ter­fra­gen und zu ver­än­dern? Haben wir damit einem neu­en Punkt der Geschich­te der sexu­el­len Wün­sche und Moral­vor­stel­lun­gen erreicht? Vor dem Hin­ter­grund der Dyna­mik frü­he­rer Kon­flik­te um sexu­el­le Wer­te und Ver­hal­tens­wei­sen ist zwei­er­lei zu erwar­ten: Zum einen schrän­ken das Coro­na­vi­rus und die damit ver­bun­de­nen zugleich ratio­na­len und irra­tio­na­len Ängs­te die Mög­lich­kei­ten sexu­el­ler Begeg­nun­gen ein, ganz unab­hän­gig von der sexu­el­len Ori­en­tie­rung. Zum ande­ren bie­tet die Kri­se eine Gele­gen­heit, einen Wan­del der Emp­fin­dun­gen im öffent­li­chen Dis­kurs zu artikulieren.

Die Pan­de­mie und das not­wen­di­ge Gebot kör­per­li­cher Distanz schei­nen lust­feind­li­che Affek­te und Moral­vor­stel­lun­gen geför­dert und vor­an­ge­trie­ben zu haben – damit zeich­net sich eine Ver­än­de­rung der gesell­schaft­li­chen Wer­te ab, die mög­li­cher­wei­se schon seit eini­gen Jah­ren im Gan­ge ist, sich nun aber zu einem sicht­ba­ren Trend ver­dich­tet hat. Zu den bemer­kens­wer­ten Ten­den­zen gehö­ren die Unter­schei­dung von angemessenem/vernünftigem und unangemessenem/unvernünftigem Sex, die For­de­rung sowie die Bereit­schaft, auf Sex zu ver­zich­ten, und ein ver­stärk­ter Wunsch, non­kon­for­mes Ver­hal­ten zu bestra­fen oder zu ächten.

Die Coro­na-Pan­de­mie kon­fron­tiert uns durch das Gebot sozia­ler Distan­zie­rung und einen Kon­text, in dem Pro­sti­tu­ti­on – bis auf wei­te­res – offi­zi­ell ver­bo­ten ist, mit neu­en Her­aus­for­de­run­gen für die Sexua­li­tät. Was für Men­schen außer­halb mono­ga­mer Paar­be­zie­hun­gen an „ver­nünf­ti­gem“ Sex bleibt, ist die Beschrän­kung auf Solo-Sex (Mas­tur­ba­ti­on) sowie digi­ta­le oder ande­re For­men „kon­takt­lo­ser“, „berüh­rungs­frei­er“ Sexua­li­tät, die über Online­por­ta­le und sozia­le Medi­en ver­mit­telt werden.

Ziele, Wirkung und Relevanz

Das Pro­jekt will drei Fra­gen beantworten

  • Wie und auf wel­che Wei­se wird Sexua­li­tät im Kon­text der Coro­na-Pan­de­mie öffent­lich the­ma­ti­siert? Wie zeigt sich dies in jour­na­lis­ti­schen Medi­en­bei­trä­gen und in Äuße­run­gen in sozia­len Medien?
  • Wel­che Aspek­te von Sexua­li­tät wer­den dis­ku­tiert – sowohl außer­halb als auch inner­halb mono­ga­mer Paar­be­zie­hun­gen – und wel­che Mei­nun­gen und Affek­te gegen­über Sexua­li­tät im All­ge­mei­nen wer­den artikuliert?
  • Inwie­weit spie­gelt sich in jour­na­lis­ti­schen Äuße­run­gen und Nut­zer­kom­men­ta­ren ein Mora­lis­mus in Bezug auf Sexua­li­tät wider, der sich in Ver­zichts- und/oder Bestra­fungs­for­de­run­gen aus­drückt? Auf wel­che Wei­se wird einem sol­chen Mora­lis­mus prä­ven­tiv oder reak­tiv entgegengetreten?

Hintergrund und transdis­zipli­näre Methodik

Aus his­to­ri­scher Sicht wirft die­se neue Pha­se nicht nur die Fra­ge auf, ob Sexua­li­tät in einem wei­ten Sin­ne ein grund­le­gen­des mensch­li­ches Bedürf­nis ist, son­dern fügt sich auch in eine Rei­he von his­to­risch vor­an­ge­gan­ge­nen Dis­kus­sio­nen über das Aus­han­deln von Berüh­run­gen und über die Span­nun­gen zwi­schen vernünftiger/rationaler/erlaubter und unvernünftiger/irrationaler/verbotener Sexua­li­tät – wie wir sie z.B. im Kon­text der HIV-Kri­se und zuletzt der #metoo-Debat­te gese­hen haben.

In unse­rem Pro­jekt wird unter­sucht, wie Annah­men über und Erfah­run­gen von Sexua­li­tät im Zuge der Coro­na-Pan­de­mie in Fra­ge gestellt wer­den. Es wird erforscht, wel­che Frames evo­ziert und wel­che Dis­kus­si­ons­strän­ge genutzt wer­den, um sexu­el­les Begeh­ren sowie die Bereit­schaft bzw. die For­de­rung zum Ver­zicht auf Sex zu the­ma­ti­sie­ren (aber auch Gegen­ar­gu­men­te zu etwai­gen Ver­zicht­for­de­run­gen). Das Pro­jekt erfor­dert die Zusam­men­ar­beit von his­to­ri­scher, psy­cho­dy­na­misch-the­ra­peu­ti­scher und kom­mu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft­li­cher Exper­ti­se – drei Dis­zi­pli­nen, die für die Erfor­schung von Sexua­li­tät bedeut­sam sind. Indem wir die­se drei unter­schied­li­chen Per­spek­ti­ven in einem inno­va­ti­ven, trans­dis­zi­pli­nä­ren Ansatz der kri­ti­schen Sexu­al­for­schung ver­bin­den, wol­len wir Fra­gen der Kon­ti­nui­tät und Ver­än­de­rung in Bezug auf gesell­schaft­li­che Wert­vor­stel­lun­gen sowie Vor­stel­lun­gen über das Wesen des Sexu­el­len als Trieb, Res­sour­ce oder Kern­aspekt des Mensch­seins erforschen.

Wir brin­gen also zusammen:

Historische Perspektiven…

…, denn was an den gegen­wär­ti­gen Auf­fas­sun­gen über Sexu­al­mo­ral und das Wesen des Sexu­el­len bemer­kens­wert ist, kann nur vor dem Hin­ter­grund frü­he­rer Ent­wick­lun­gen und im Kon­text vor­an­ge­gan­ge­ner Pha­sen von Kon­flik­ten über sexu­el­le Wün­sche und Prak­ti­ken ver­stan­den wer­den. Das Coro­na­vi­rus hat ein neu­es „Berüh­rungs­ver­bot“ her­vor­ge­bracht und damit lau­fen­de Trends beschleu­nigt – aber auch (und das ist für unse­re Stu­die nicht weni­ger wich­tig) Wider­stän­de und Ambi­va­len­zen gegen­über die­sen Trends. Die Erfah­run­gen die­ser Pan­de­mie bau­en zwei­fel­los auf frü­he­ren indi­vi­du­el­len und gesell­schaft­li­chen Erfah­run­gen mit HIV, aber auch mit der #metoo-Bewe­gung und mit Kon­flik­ten um die Macht­ver­hält­nis­se zwi­schen Män­nern und Frau­en im öffent­li­chen wie im inti­men Leben auf.

Prof. Dr. Dagmar Herzog

Geschich­te
Gra­dua­te Cen­ter, City Uni­ver­si­ty of New York

Prof. Dr. Katinka Schweizer

Psy­cho­lo­gie
MSH Medi­cal School Hamburg

Prof. Dr. Ilka Quindeau

Kli­ni­sche Psy­cho­lo­gie
Frank­furt Uni­ver­si­ty of App­lied Sciences

Prof. Dr. Friederike Herrmann

Jour­na­lis­tik
Uni­ver­si­tät Eichstätt-Ingolstadt

Dr. Richard Lemke

Sozi­al­wis­sen­schaf­ten und Füh­rung der Poli­zei­aka­de­mie Niedersachsen

Die Unter­su­chung der Dyna­mik öffent­li­cher Dis­kur­se über Sexua­li­tät in einer Zeit des social distancing ermög­licht ein ver­tief­tes Ver­ständ­nis mensch­li­cher Sexua­li­tät. Sie hilft uns aber auch zu ver­ste­hen, wie die Dis­kur­se über Sexua­li­tät als Mit­tel zur Bewäl­ti­gung grö­ße­rer gesell­schaft­li­cher Kon­flik­te und Ängs­te fun­gie­ren. Unse­re Erkennt­nis­se zu Aus­drucks­for­men des Begeh­rens, des Ver­bots und des Ver­zichts sowie zu Bemü­hun­gen, die Bedeu­tung der Sexua­li­tät im mensch­li­chen Leben im Kon­text die­ser sozia­len Kri­se ent­we­der zu ver­wer­fen oder zu ver­tei­di­gen – und die not­wen­di­ge his­to­ri­sche Kon­tex­tua­li­sie­rung die­ser Phä­no­me­ne – sind wich­tig für das Ver­ständ­nis künf­ti­ger Kri­sen und der poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen zu ihrer Bewäl­ti­gung. Dar­über hin­aus ist die Ana­ly­se der öffent­li­chen Dis­kur­se über sexu­el­le Lust von hoher Rele­vanz für psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Prozesse.